LITERARISCHE STÜCKE
ausgewählt von Lisa Lotte Vogel

Jesus mit den verfolgten Juden
Der Gekreuzigte als Begleiter, als Mitleidender und als Ebenbild seines ermordeten Volkes: Er erscheint häufig in Dichtung und Prosa über die Verfolgung der Juden im Dritten Reich. Er er-scheint damit zugleich als Ankläger gegenüber den Christen. Luthers "non Imitatio fecit filios, sed filiatio fecit imitatores" - etwas anders gewendet.
Wie Jesus am Kreuz bis zur Gottverlassenheit litt, so auch seine jüdischen Brüder. Zwar hören wir auch von einem vor einer Gaskammertür tanzenden Rabbiner und anderen Glaubenszeugnis-sen; aber der physischen Vernichtung ging viel-fach, wie Elle Wiesel bezeugt, die Ermordung der Seele und die Ermordung Gottes in den Herzen voraus. Das ist vor einer jeglichen christlichen Predigt nach Auschwitz zu bedenken. "Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott der uns verläßt". (Bonhoeffer)
Zu bedenken sind auch die Folgen von Auschwitz für die Überlebenden und die Weiterlebenden - für Juden und Christen, für alle Menschen. Da-mit wir nicht versteinern.
Zum Bedenken dieses Themas sollen die folgenden Gedichte und Prosastücke anregen.

Gang durch die Via Dolorosa, Georg Mannheimer

Denn sie wissen nicht, was sie tun, Hermann Adler

Am Galgen, Elie Wiesel

Gebet, Ilse Blumenthal-Weiss

Das Kreuz von Wilna, Hermann Adler

David, Friedrich Torberg

Hütet die Tafeln des göttlichen Bundes, Hermann Adler

Die Prüfung des Lächlers, Christa Reinig

Lächeln über die Welt und über sich selbst, Horst Bienek

Das Lied vom letzten Juden, Jizachak Katznelson

Welt, frage nicht die Todentrissenen, Nelly Sachs

Memento, Mascha Kaleko

Der ungebetene Gast, Günter Kunert

Betet, Jizachak Katznelson

 

GANG DURCH DIE VIA DOLOROSA

Ich sah dich durch die düstre Altstadt gehn,
ich sah dich unter Geißelhieben sinken,
ich sah dich auf dem Berge Moria stehn,
das Kreuz zur Rechten und das Kreuz zur Linken.

Ich sah den Pöbel sich im Taumel drehn,
ich sah Megären rasend Tücher winken,
ich sah das Blut auf deinen Schläfen wehn,
sah dich, den bittren Kelch zur Neige trinken.

Ich sah dich, als ich durch die Altstadt ging,
dich Bruder Jesus: den die Meute fing,
weil deine Welten nicht von ihrer waren.

Ich sah: dich wieder blutig und entstellt,
ich hört dich wieder schreien durch die Welt
wie einst vor - neunzehnhundertdreißig Jahren.

GEORG MANNHEIMER geschrieben 1933
Aus: Lyrik der Freiheit 1933-1945,
Herausgegeben von Manfred Schlösser, Agora-Verlag, Darmstadt, 1961, S. 122


"... DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN!"

Nah an der Mauer des Ghettos in Wilna steht, blutig, ein Holzkreuz,
und der Gekreuzigte blickt, gläubig, zum Himmel empor.
Zitternd vor Schmerz preßt die Mutter sich fest an die Mauer des Elends.
Polen ziehn, spottend zwar nicht, aber doch schweigend vorbei...
Jetzt gehn die Söhne des Ghettos den Kreuzweg; vielleicht bald die Polen;
keiner soll leben, wenn einst wieder die Freiheit erstrahlt!

Endlos von Schmerzen gepeinigt, so schreit der Gekreuzigte betend:
"Vater, den Mördern vergib; rüttle die Schweigenden auf!"
Und mit dem Rauschen der Schwingen des Todes, da haucht er wie selig:
"Israel höre..." Und bleich sinkt dann die Mutter ins Knie:
"Vater im Himmel, Du nimmst uns die Kinder, Du führst uns zum Tode;
aber wenn Zeugen Du läßt - sprich dann aus ihnen, Gott, Du!"

HERMANN ADLER geschrieben 1941/42 in Polen
Aus: Gesänge aus der Stadt des Todes, Zürich, 1945


AM GALGEN

Er (der Oberkapo) hatte im Dienst einen jungen Burschen bei sich, einen Pipel, wie man ihn nannte, ein Kind mit feingezeichneten schönen Gesichtszügen, das nicht in unser Lager paßte.

(In Buna haßte man die Pipel: dort erwiesen sie sich oft grausamer als die Erwachsenen. Ich habe einmal einen Dreizehnjährigen seinen Vater schlagen sehen, weil dieser sein Bett nicht gut gemacht hatte. Da der Alte sanft weinte, schrie der Junge: "Wenn du nicht sofort aufhörst zu heulen, bring ich dir kein Brot mehr. Verstanden?" Der kleine Diener des Holländers wurde jedoch von allen geliebt. Er hatte das Gesicht eines unglücklichen Engels.)

Eines Tages flog die Elektrozentrale von Buna in die Luft. An Ort und Stelle gerufen schloß die Gestapo auf Sabotage. Man fand eine Fährte, die in den Block des holländischen Oberkapos führte. Dort entdeckte man nach einer Durchsuchung eine bedeutende Menge Waffen.

Der Oberkapo wurde auf der Stelle festgenommen. Wochenlang wurde er gefoltert. Umsonst. Er gab keinen Namen preis, wurde nach Auschwitz über-führt und war fortan verschollen.
1, Aber sein Pipel blieb im Lager, im Kerker. Gleichfalls gefoltert, blieb auch er stumm. Die SS verurteilte ihn daher zusammen mit zwei an-deren Häftlingen, bei denen Waffen gefunden worden waren, zum Tode.

Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. An-treten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.

Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biß sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.

Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle.

Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt.

"Es lebe die Freiheit!" riefen die beiden Erwachsenen.

Das Kind schwieg.

"Wo ist Gott, wo ist er?" fragte jemand hinter mir.

Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um.

Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.

"Mützen ab!" brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten.

'Mützen auf!"

Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch...

Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mußten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.

Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: "Wo ist Gott?"

Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:

"Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen..." An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.

***********************

"Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.

Nie werde ich diesen Rauch vergessen.

Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen.

Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.

Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat.

Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen.

Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie."

ELIE WIESEL, Die Nacht zu begraben, Elischa, übersetzt von Curt Meyer-Clason, Bechtle-Verlag, München/Esslingen, ca. 1963, S. 92-94, S. 50 geschrieben nach dem 2. Weltkrieg


GEBET

Ich kann nicht hassen.
Sie schlagen mich. Sie treten mich mit Füßen.
Ich kann nicht hassen. Ich kann nur büßen
Für dich und mich.

Ich kann nicht hassen.
Sie würgen mich. Sie werfen mich mit Steinen.
Ich kann nicht hassen. Ich kann nur weinen
Bitterlich.

ILSE BLUMENTHAL-WEISS
Aus: Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten; herausgegeben von Sigmund Kaznelson, Jüdischer Verlag, Berlin, 1959, S. 378


DAS KREUZ VON WILNA

In Wilna steht ein Kreuz aus Stein gehauen. Ein Heiliger ist an das Kreuz geschlagen.
Sein Mund ist steinern, und Er kann nichts sagen. Aus Stein sind Seine Augen, die nicht schauen.

Er hört uns nicht. Aus Stein sind Seine Ohren. Nie schlug Sein Herz. Es ist aus toten Steinen. Die Mutter kniet vor Ihm. Sie kann nicht weinen. Aus Stein ist sie und hat Ihn nie geboren.

Euch aber sieht ein Unsichtbarer stehen. Euch hat ein Gott beseelt. Und doch: Ihr höret Uns nicht, als ob auch ihr nur steinern wäret. Ihr glaubt, ihr seht. Und doch: Ihr könnt nicht sehen!

Versteinerte! Erheuchelt sind die Lieder Aus euren Kehlen. Trug ist euer Beten.
Das Ebenbild der Gottheit liegt zertreten. Voll Blut seid ihr! Sagt! Wo sind eure Brüder?

Gerichtet habt ihr! Sterbende, sie riefen Gott an! Er kann euch retten und vernichten! Wie ihr gerichtet habt, kann Gott euch richten! Er ließ euch prüfen, um euch selbst zu prüfen!

Versteinerte! Wollt ihr vor Steinen büßen? Versteinerte! Wollt ihr den Stein beweinen? Wollt ihr euch heuchlerisch vor Göttersteinen, Versteinerte, den Lebenden verschliessen?

Seht! Als die Mörder ihre Opfer führten, Euch liess es kalt. Kalt waren eure Herzen. Mit Spott ertruget ihr die fremden Schmerzen. Gott gab euch Seelen, die sich niemals rührten!

Ihr Steinernen! Wer gab euch Kraft zu gaffen? Ihr Steinernen! Macht fremder Schmerz Vergnügen? Gott schuf den Heiland euch nach Seinen Zügen. Ihr habt Ihn, Steinerne, aus Stein erschaffen!

Euch zu erlösen, wurde Er geboren.
Sein Wort ist tot. So laut es auch erschalle. Aus Stein seid ihr. Der Stein ist wie ihr alle. Ein Steinkreuz steht. Sein Geist ging euch verloren!

HERMANN ADLER geschrieben in Wilna 1942,
Aus: Balladen der Gekreuzigten, der Auferstandenen und Verachteten, Oprecht-Verlag, Zürich, 1946

DAVID

Nach einem englischen Motiv der Maria Syrkin

Dies denke aus: die Schleuder hat versagt, kraftlos der Stein verkollert in den Hecken - und Goliath beginnt sich graß zu recken und vor dem Knaben, der's in Gott gewagt,

dem süßen Knaben, steht er auf und ragt
und hebt das Schwert und schwingt's, ihn hinzustrecken -
indessen Gottes Volk aus starrem Schrecken ein Mal noch aufschreit und zum Himmel klagt.

Dies denke aus: des Unholds Wüten kreißt und torkelt wüst vor der Philister Heer. Pflugscharen splittern. Felder klaffen leer. Geborsten der Altar. Die Harfe reißt.

Dies denke aus: das Wehe einer Welt,
in der kein Psalm ertönt, denn David ward gefällt.

FRIEDRICH TORBERG geschrieben 1940/46
Aus: Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten, herausgegeben von Sigmund Kaznelson, Jüdischer Verlag, Berlin, 1959, S. 157


"...HÜTET DIE TAFELN DES GÖTTLICHEN BUNDES!"

Mitten in Wilna steht, ehrfurchtgebietend, das heilige Kloster
Ostra Brama, und dort beten die Mönche für uns. Unsre Rabbinen sind alle erschossen; die Rollen der Thora,
kündend das Alte Gesetz, liegen im Schmutze entweiht!
Tausende liegen in Gräben, und keiner sagt ihnen das Kaddisch,
aber die Messe für sie liest dann ein einsamer Mönch.
Gnädig nimm, Gott, die Gebete des Pfarrers der Ostra Brama
auf, denn in strenger Clausur hält er Verfolgte versteckt!
Keiner der Mönche verlacht die Gebote des Alten Gesetzes;
Gott sprach durch Moses zu uns; Christus verschwor sich dem Wort;
Christus, wie wir, schritt zum Tode; er wurde verleumdet wie wir; er
war doch einst einer von uns, leicht stirbt er heute mit uns!

Wehe dem Volk, das die Zeugen des ewigen Gottes vernichtet,
und mit dem Judentum fällt christlicher Ursprung ins Grab!
Gestern erst führte man Mütter und Kinder vom Ghetto zum Richtplatz,
und von dem Kirchendach sah stumm die Madonna auf sie.
Gläubig sprach eine der jüdischen Mütter zum weinenden Kinde:
Heilig ist jeder und groß, wenn er die Prüfung bestand!
Höre, Du jüdische Mutter Maria! Die Leiden der Mütter
unserer Zeit sind so groß, wie es das Deine nicht war;
unsere Kinder, Maria, die tragen wir selber zur Schlachtbank;
tot sind erst sie und dann wir; Blut mischt sich schreiend mit Blut!
Mütterlich blickst du, Maria, vom Dache der Ostra Brama; Vater und Mutter und Kind - Opfer sind sie wie Dein Sohn!

HERMANN ADLER geschrieben 1941/42 in Polen
Aus: Gesänge aus der Stadt des Todes, Zürich, 1945


DIE PRÜFUNG DES LÄCHLERS

für meine mutter,
die dem lächler das haupt gehalten hat.

als ihm die luft wegblieb, hat er gelächelt
da hat sein feind ihm kühlung zugefächelt
er lächelte, als er zu eis gefror
der feind rückt ihm die bank ans ofenrohr

er lächelte auch, als man ihn bespuckte
und als er brei aus kuhmist schluckte
er lächelte, als man ihn fester schnürte
und er am hals die klinge spürte

doch als man ihm nach einem wuchtigen tritt
die lippen rundum von den zähnen schnitt
sah man ihn an, erst ratlos, dann erstarrt
wie er im lächeln unentwegt verharrt.

CHRISTA REINIG
Aus: Die Steine von Finisterre, Verlag Eremiten-Presse, Düsseldorf, 1974


LÄCHELN ÜBER DIE WELT UND ÜBER SICH SELBST

Das Gedicht ist wie die Beschreibung eines Bildes, das Francis Bacon gemalt haben könnte. Einfach und lakonisch, in grellen Aufrissen, mit einprägsamen, suggestiven Reimen: ein Mensch, der lächelt, über die Welt, über die Feinde, über sich selbst, rätselhaft lächelt - und dem man das Lächeln nicht wegnehmen kann, auch nicht in der Tortur. Ein Gedicht, das ein konkretes, wenn auch zeitloses Ereignis aufschreibt und das damit hinausweist in eine politische oder theologische Metapher. Etwa: der Glaube, der unverrückbar ist und schließlich den andern, den Feind, verändert; das weiche Wasser besiegt den harten Stein; der Schwache besiegt den Tyrannen.

Das sind schon Interpretationen, es ließen sich weitere hinzufügen. Darum geht es nicht. Es ist ein "offenes Gedicht, und ich glaube, Christa Reinig geht es eher darum, auf diese Weise den Leser zur eigenen, aus der Selbsterfahrung bestimmten Interpretation aufzurufen. Erst von daher kann sich jene Betroffenheit einstellen, die, übers Literarische hinau.s, ins Biographisehe (oder Nacherlebbare) geht.

Der Vorgang wird deshalb so lapidar wie möglich "erzählt", kein Dekor, kein Milieu, keine definierte Zeit: im Grunde ein philosophischer Gedanke, eine theosophische Idee, die hier in eitler zugegeben kühnen und schlüssigen Parabel konkretisiert werden. Der Titel "Die Prüfung" verstärkt noch den ideengeschichtlichen Aspekt. Das Gedicht ist vielinterpretierbar, aber doch eindeutig. Es ist privat wie auch öffentlich, politisch wie religiös wie auch literarisch: in dieser Prüfung sind wir,die Leser, ebenfalls Gefolterte; das will in einem konkreten und metaphorischen Sinn verstanden sein.

Christa Reinig hat sich lange mit chinesischer Philosophie beschäftigt, von dort kommt das her - und von Brecht und auch aus der Erfahrung ihrer (damals) isolierten wie gefährdeten Existenz. Die konventionelle Form hält die Kühnheit, die Explosivkraft des Gedankens zusammen, ja, der Zwang des Reims, ohne Umweg, von Zeile zu Zeile, macht erst die Freiheit des Lächlers (auch in der Tortur) offenbar.

HORST BIENEK
Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.8.1974


DAS LIED VOM LETZTEN JUDEN

Nicht einer blieb verschont, war das
gerecht, ihr Himmel? Sagt, und wenn gerecht für wen?
Für wen? Für uns? Gesteht: Wofür?
Wir schämen uns für euch. Und für die Schuld der Welt.
Taub war die Erde. Stumm. Sie schloß
die Augen. Doch ihr Himmel. Hell seid ihr. Und 1, schön.
Von eurer Höhe aus habt ihr
herabgeblickt - Geblickt! Und nicht seid ihr zerschellt.

Euch glaubte ich, ihr Himmel. Und
ich weihte euch die schönsten Lieder, die ich sang.
Euch liebte ich, wie ich
nur noch mein Weib, ihr Himmel, liebe. Sie ist tot. Rauch. Schaum
In meiner Jugend schon verglich
ich meine Hoffnung mit dem Sonnenuntergang. Und meine Seele weinte: So
entschwindet meine Hoffnung; so verlischt mein Traum.

Erkennt ihr uns nicht mehr? Sind wir
verändert? Oder seid ihr selbst veränderlich? Wir sind das Volk, das Gottes Wort
verbreitet hat, ein Volk, das Gottes Zeuge ist, Und unsre Väter waren Heilige.
Und wir sind besser noch. Nicht ich! Nicht ich Bin ein Prophet! doch: heilig ist am Kreuz mein Volk, das für die Schuld der Erde büßt.

Wenn je mein Volk ein auserwähltes war,
weil es für andre litt, dann jetzt, dann jetzt,
Weil niemals noch ein Jude starb,
geläutert so wie jeder, der uns klein erscheint In Warschau, Wilna oder in
Wolhynien. Denn: Aus jedem Juden schreit, entsetzt,
Ein Jeremia. Jeder ist
ein König an Enttäuschung, der für alle weint.

Ihr kennt, erkennt uns nicht.
Seid ihr verwandelt? Oder hat sich unser Volk
1 verstellt?
Die sind wir, die wir waren. Und
wir freveln, wenn wir freveln, gegen uns allein. Und wir verzichten, so wie einst,
auf Glück. Doch: Retten wollen wir, wie einst, die Welt.
Warum gestrahlt ihr, blaue Himmel, da
wir sterben, unser Weh mit blauem Schein?

Kein Gott, ihr Himmel, lebt in euch.
Die Tore auf, ihr Himmel - Himmel, auf,auf,auf! Die Kinder meines ausgerotteten,
zerquälten Volkes kommen. Hört den Spott
Der Wett: Welch große Himmelfahrt!
Ein ganzes Volk, gekreuzigt, fährt zu euch hinauf. Und Christus gleicht ein jedes Kind;
denn jedes hat gelitten wie ein Christengott.

JIZCHAK KATZNELSON geschrieben ca. 1943 nach der Teilnahme am Ghettokampf in Warschau. Gekürzter Text.
Aus dem Jiddischen übertragen von Hermann Adler; Oprecht-Verlag, Zürich, 1951, S. 59 ff. Vgl. die Interpretation dieses Gedichtes bei Friedrich Heer, Gottes erste Liebe, München, 1967.


WELT, FRAGE NICHT DIE TODENTRISSENEN

wohin sie gehen,
sie gehen immer ihrem Grabe zu.
Das Pflaster der fremden Stadt
war nicht für die Musik von Flüchtlingsschritten gelegt worden -
Die Fenster der Häuser, die eine Erdenzeit spiegeln
mit den wandernden Gabentischen der Bilderbuchhimmel -
wurden nicht für Augen geschliffen,
die den Schrecken an seiner Quelle tranken.

Welt, die Falte ihres Lächelns hat ihnen ein starkes Eisen ausgebrannt;
sie möchten so gerne zu dir kommen
um deiner Schönheit wegen,
aber wer heimatlos ist, dem welken alle Wege wie Schnittblumen hin -

NELLY SACHS geschrieben 1942/44 in Stockholm
Aus: Lyrik der Freiheit 1933-1945 herausgegeben von Manfryd Schlösser, Agora-Verlag, Darmstadt, 1961, S. 226


MEMENTO

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da. sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
- Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

MASCHA KALEKO geschrieben 1956
Aus: Lyrik der Freiheit 1933-1945, herausgegeben von Manfed Schlösser, Agora-Verlag, Darmstadt 1961, S. 299


DER UNGEBETENE GAST

1
Stellt noch einen Stuhl an den Tisch.

2
Es ist ein Gast gekommen
(Aus der Gegend um Warschau dort)
Und hat am Tisch Platz genommen
Und sagte kein einziges Wort.

3
Füllet ihm ein Glas.

4
Die Füße mit Lappen umwunden,
Und die Augen haben gefehlt.
An der Kehle klaffende Wunden
Haben stumm seine Geschichte erzählt.

5
Was steht dem Gast zu. Diensten?

6
Er schwieg gleich der dunklen Tiefe
Im allertiefsten Meer.
Dann hob er den Kopf, als riefe
Seinen Namen irgendwer.

7
Öffnet ihm die Tür.

8
So ist der Gast gegangen
Sacht wie ein Licht verlischt.
Sich doch zum Essen zwangen,
Denen man aufgetischt.

9
Wohl bekomm es.

10
Da schmeckten nach Asche die Bissen,
Und die Esser senkten den Blick;
Voreinander ihre Gewissen
Verbargen sie ohne Geschick.

11
So rückt doch den Stuhl wieder fort.

GÜNTER KUNERT nach dem 2. Weltkrieg geschrieben
Aus: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland; herausgegeben von Bernd Jentzsch, Kindler-Verlag, München, 1979, S. 101


BETET (1942)

Wir sind die Toten
Über der Erde,
Wir haben keinen Willen,
Nur einen Wunsch:
Betet - betet -
Daß uns Erlösung werde.

Aus: Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten; herausgegeben von Sigmund Kaznelson, Jüdischer Verlag, Berlin, 1959, S. 203
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